Kritische Lage des Euro

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Man hört es immer wieder: In der Euro-Krise sei das Ärgste überstanden, der Euro scheine gerettet zu sein. Zu den Indizien gehören die Stärke gegenüber dem Dollar, die gesunkenen Zinsen für Staatsanleihen von Problemländern, die nicht ungünstigen Konjunkturaussichten und die wachsende Zuversicht der Finanzmärkte. Demnach hätten die Euro-Länder den Weg zur Erholung eingeschlagen. Einige Staaten sind an den Kapitalmarkt zurückgekehrt, andere hoffen, schon bald gleichzuziehen. Politiker und Notenbanker können aufatmen: Aus ihrer Sicht ist die jahrelange Krise überwunden.


Trügerischer Optimismus

Einige Kommentatoren halten diese Sicht jedoch für übertrieben optimistisch. Sie sind der Ansicht, dass die Beruhigung trügerisch sei, denn praktisch keines der Probleme sei gelöst worden. Vor allem bleibe die Verschuldung der Staaten, der Privathaushalte und der Unternehmen auch in den kommenden Jahren viel zu hoch, wenn man das nur schwache Wirtschaftswachstum und die sehr geringe Inflation in Rechnung stelle, meint beispielsweise Jean-Marc Vittori, Kommentator des französischen Wirtschaftsblattes „Les Echos“.
Andere Beobachter weisen auf die beharrlich hohe Zahl von Arbeitslosen in der Euro-Zone hin – über 19 Mio. Personen. Mike Shedlock, Berater der Sitka Pacific Capital Management, erwähnt den wieder gestiegenen Anteil von Staatsanleihen in den Bankbilanzen, der bei steigenden Zinsen zum Problem werde. Das Freiburger Centrum für Europäische Politik weist auf Basis seines CEP-Default-Indexes warnend darauf hin, dass die Auslöser der Euro-Krise fortbestehen und die Erosion der Kreditfähigkeit von Euro-Staaten, auch nordischen, anhält.
Angesichts der ungelösten Probleme bewertet Vittori die Überlebenschancen des Euro auf unter 50%. Im Grunde sei nichts geregelt, die Euro-Zone bleibe gefangen im Teufelskreis zu hoher Schulden und zu geringen Wachstums. Gerettet worden seien die Banken und Unternehmen – auf Kosten der Bevölkerung, denn jeder achte Bewohner der Euro-Zone im arbeitsfähigen Alter sei arbeitslos. Die Skepsis gegenüber der EU und dem Euro wachse, wie beispielsweise Umfragen in Frankreich zeigten. Europa, gemeint ist die europapolitische Elite, habe sich gegen die Völker gestellt. Da die Chancen einer Vertiefung und Solidarisierung in der Union gering seien, bliebe keine andere Wahl, als die Euro-Zone zu demontieren und sich auf die Zeit nach dem Euro, auf «après l’Euro», einzustellen.
Im Dezember sei das Bruttoinlandprodukt (BIP) der Euro-Zone noch immer 3% niedriger als Anfang 2008 gewesen, betont Kevin Hjortshøj O’Rourke, Wirtschaftshistoriker an der Universität Oxford, im Magazin «Finance and Development» des Internationalen Währungsfonds IMF. In einigen Ländern sei der Einbruch noch deutlich heftiger ausgefallen. Die Euro-Region befinde sich in einem schrecklichen Schlamassel. Spätere Historiker müssten sich die Frage stellen, wieso es überhaupt zur Einführung des Euro gekommen sei. Der Euro sei keine gute Idee gewesen, das habe man schon gewusst, als er entworfen wurde. Das Krisenmanagement der Entscheidungsträger seit 2010 sei schockierend schlecht gewesen. Da die Aussichten auf eine baldige und erfolgversprechende Banken- und Fiskalunion gering seien, verbleibe nur ein Rückbau der Währungsunion, damit die Europäische Union nicht gefährdet werde.


Verleugnung der Realität

Wie gegensätzlich der Status quo gewertet wird, zeigt das Beispiel Griechenland. Während IMF-Chefin Christine Lagarde den Primärüberschuss als Erfolg und Beweis für die Gesundung der Wirtschaft des Landes feiert, betont Yanis Varoufakis, Professor an den Universitäten von Texas und Athen, unter anderem, dass das nominale BIP weiter und beschleunigt falle, die Industrieproduktion sinke, die Nettoinvestitionen negativ seien, 1,3 Mio. Personen arbeitslos seien bei einer Arbeitsbevölkerung von 3 Mio., von den Arbeitslosen nur 10% Arbeitslosengeld bezögen und Lieferanten des Staates 24 Monate auf Bezahlung warten müssten.
Die Versuche, Griechenlands Schuldenkrise zu lösen, haben auch zu Problemen auf anderen Ebenen geführt. Eine in «The Lancet» publizierte Studie britischer Universitäten macht auf Begleiterscheinungen der Austeritätspolitik aufmerksam. Der staatliche Aufwand für das Gesundheitssystem sei auf nur 6% des BIP gedrückt und Gesundheitskosten seien auf die Patienten verlagert worden. Folgen seien ein schlechterer Zugang zu Gesundheitsdiensten, eine Zunahme von Infektionen und Krankheiten, ein Anstieg der Kindersterblichkeit und ein Mangel an Medikamenten. Diese sozialen Kosten negiere die Politik, die Autoren sprechen sogar von einer Verleugnung der Realität.

18254672  Originalartikel der NZZ