Der Terrorkrieg

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Europa ist keine Insel des Friedens. Mit den Anschlägen von Paris ist der Terrorkrieg in die Hauptstadt des Kontinents vorgerückt.

Terrorkrieg ist eine Kriegsform eigener Art. Er unterscheidet sich grundlegend vom altbekannten Terrorismus und vom Krieg der Nationalstaaten. Seine Strukturen und Methoden bedürfen daher einer eigenen Betrachtung.

Die Anschläge in Paris erfolgten synchron, koordiniert und nach bekanntem Muster. Bevor die sieben Attentäter ihre Sprengstoffgürtel zündeten, richteten sie mit Granaten und Sturmgewehren Blutbäder an. Dies entspricht der Taktik extremistischer Muslime weltweit. Terrorkrieg feiert den Triumph des Todes. Die Täter rechneten nicht mit dem eigenen Überleben. Sie fürchteten keine Strafe. Beim letzten Gefecht boten sie alle Mittel auf. Bevor sie unzählige Menschen töteten und verletzten, hatten sie mit dem eigenen Leben bereits abgeschlossen.

Der Terrorkrieg darf nicht mit Terrorismus gleichgesetzt werden. Er ist etwas anderes.

  • In Paris wurden Restaurants nicht angegriffen, weil die Terrorkrieger Pizza oder Lok Lak verschmähten;
  • sie griffen das Konzert nicht an, weil sie Heavy Metal für eine Art von Gotteslästerung hielten.
  • Und sie versuchten nicht, in das Stadion einzudringen, weil sie Ballspiele verachtet hätten.

 

Die Anschläge galten auch nicht der westlichen Freizeitkultur.

Wohlfeile Diskurse über einen vermeintlichen kulturellen Hintersinn verfehlen das Thema. Sie verkleinern den Krieg zum Kulturkampf. Das Massaker war keine Wortmeldung im Streit der Religionen oder Kulturen, und es lieferte auch kein Beispiel der Barbarei gegen die Zivilisation.

Wir sehen uns konfrontiert mit einem Akt lokaler Massenvernichtung.

Terrorkrieg nutzt die ungeheure Destruktivkraft des Individuums. Es genügten acht Subjekte, um eine ganze Gesellschaft in Entsetzen, Trauer und Ohnmacht zu stossen.

Die Terrorkrieger waren unangreifbar, weil sie auf nichts und niemanden achten mussten. Sie kannten weder Rücksicht noch Vorsicht. Nur auf die kühle, rasche Umsicht wahlloser, summarischer Zerstörung waren sie trainiert. Abschreckung schreckte sie nicht. Wie alle Selbstmordattentäter gingen sie bis zum Letzten. Ein einziger Täter wurde erschossen. Alle anderen jagten sich zuletzt selbst in die Luft.

Das Kommando stand in Diensten des Islamischen Staates (IS). Der IS ist weit mehr als eine militante Miliz. Er ist eine staatsähnlich Herrschaftsform, die sich auf einen göttlichen Hintergrund beruft und ist ausgestattet mit Sozialfürsorge, Steuersystem, drakonischer Indoktrination, sexueller Sklaverei, Geheimdienst, regulären Armeeverbänden und internationalen Brigaden zugereister Terrorkrieger.

Im Nahen Osten setzt der IS Terror als Taktik der Zermürbung ein. Der Terror des IS sprengt die Städte und Dörfer sturmreif. Obwohl unsichtbar, sind die Feinde allgegenwärtig. Der Schrecken zerstört das Vertrauen in die alte soziale Ordnung und paralysiert die Gesellschaft durch Angst. Ist dieser Zustand erreicht, tut sich der IS mit der finalen Eroberung stets leicht..

Die Anschläge von Paris markieren eine neue Stufe. Der Terrorkrieg wird globalisiert.

Immer mehr Milizen, Kommandos, Einzeltäter in Afrika, Asien und Europa rechnen sich dem IS zu. Sie verstehen sich als lokale Filialen, Stützpunkte, Vorposten des künftigen Weltkalifats. In Beirut wurden am 12. November bei einem Angriff des IS auf ein Einkaufszentrum über vierzig Menschen getötet, die Bombe in der russischen Passagiermaschine kostete 224 Touristen das Leben.

Der IS rekrutiert seine Krieger weltweit, er verbreitet seine Propaganda weltweit, und er ist daran, die Kriegszone auf dem Globus auszudehnen.

Geführt wird der Terrorkrieg nicht von regulären Armeen, sondern von selbständig operierenden Kommandos. In Paris taten sich vermutlich ortskundige Einheimische mit infiltrierten IS-Milizionären zusammen. Im Gegensatz zum alten Al-Kaida-Netzwerk operieren IS-Kommandos auf zentralen Befehl. Der IS führt seit Jahren eine amtliche Zentralstatistik, in welcher jeder Anschlag registriert wird. Er nutzt die

  • Vorteile hierarchischer Planung
  • mit der Erfahrung professioneller Militärkader
  • und der Todesbereitschaft lokaler Anhänger und Sympathisanten.

 

Anders als im Nahen Osten zielt der Terror von Paris nicht auf die Besetzung Frankreichs oder die Erbeutung von Frauen, Geld oder Öl.
Ziel sind Tod, Verwüstung, die Herrschaft des Schreckens, in der am Ende alles dem Erdboden gleichgemacht ist.

Die Ausweitung der Kampfzone ist nicht mit der Errichtung einer neuen Frontlinie zu verwechseln. Terrorkrieg kennt keine Schützengräben, Grenzbefestigungen, Aufmarschgebiete, Ruhezonen. Jeder Ort kann zum Schlachtplatz werden: ein Hotel, ein Marktplatz, ein Pendlerzug, eine Touristensiedlung, eine Bar, ein Stadion. Die Trennlinie zwischen Krieger und Zivilist ist aufgehoben. Regeln und Konventionen des Krieges sind gestrichen. Schlachten kennt der Terror nicht. Er ist wahllos, unberechenbar. Die Gewaltmaschinen des industriellen Kriegs zählen wenig. Es genügen die Waffen, die der Einzelne mit sich trägt. Ein Kampf findet nicht statt. Die Opfer haben keine Chance, die Wechselseitigkeit von Angriff und Verteidigung ist aufgehoben.

Dieser Terrorkrieg hat jetzt das Zentrum Europas erreicht: in dem Flüchtlingszug Hunderttausender aus dem Nahen Osten und in der Infiltration von kleinen Todeskommandos.

Auszug aus Wolfgang Sofsky, Soziologe, Essayist und freier Autor,

in der NZZ vom 16. November 2015