Freihandelsabkommen

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Die Schweiz unter fiskalischem Druck der EU

Ungeachtet der vom Souverän 1992 abgelehnten Teilnahme der Schweiz am Europäischen Wirtschaftsraum hat die Eidgenossenschaft das Beziehungsgeflecht mit der EU über den Abschluß der Bilateralen I und II kontinuierlich verdichten können. Die Politik der behutsamen Annäherung an Brüssel wird nicht nur vom Volk getragen, wie die europapolitischen Abstimmungen der letzten Jahre allesamt bewiesen haben. Auch die EU, die sich lange Zeit eher zögerlich für den bilateralen Ansatz erwärmen konnte, hat sich letztlich immer pragmatisch gegeben und den "Sonderfall Schweiz" in Sachen Europapolitik akzeptiert.

Wolken am Horizont

Vielleicht tut sie dies in der Erwartung, die Schweiz verhalte sich gegenüber der EU, wie sie es gegenüber der UNO getan hatte. Bei dieser engagierte sich das Land zunächst in sämtlichen Unterorganisationen, und erst später wurde sie UNO-Mitglied. So ist mit Blick auf die EU die Schweiz wirtschaftlich – und in mancher Hinsicht darüber hinaus – bereits gut integriert, vielleicht sogar besser als manches EU-Land. Dank dem Freihandelsabkommen (FHA) von 1972 und den verschiedenen Sektoralabkommen der Bilateralen I und II wird die Schweizer Wirtschaft auf dem riesigen EU-Binnenmarkt jedenfalls nur noch marginal diskriminiert.

In Brüssel wird freilich mit Argusaugen darauf geachtet, dass die Eidgenossenschaft keine aus EU-Sicht ungerechtfertigte Rosinenpickerei betreiben kann. So musste, um ein Beispiel zu erwähnen, der Bundesrat während der Verhandlungen über die Bilateralen II pekuniär nachhelfen, um den Handschlag mit Brüssel zu erreichen. Er stellte auf mehr oder weniger sanften Druck der EU für die zehn neuen EU-Länder Kohäsionshilfen von total 1 Mrd. Franken während fünf Jahren in Aussicht. Das muß man akzeptieren. Auch die Schweiz profitiert von der politischen, ökonomischen und sozialen Stabilität in Europa. Diese wird nicht zuletzt durch jährliche milliardenschwere Transferzahlungen der reichen Mitgliedstaaten an die ärmeren EU- Partner garantiert. Mit ihrem finanziellen Zustupf entkräftet folglich die Schweiz die oft gehörte Unterstellung, nur eine egoistische Trittbrettfahrerin zu sein.

Es ziehen neue und vielleicht sogar bedrohliche Wolken am Horizont des Bilateralismus auf. Am 26. September 2005, also exakt einen Tag nach der Zustimmung des Stimmvolks zur Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf die neuen EU-Länder, traf bei der Schweizer Mission in Brüssel ein unerfreulicher Brief der EU-Kommission ein. Darin wurde die Frage aufgeworfen, ob gewisse kantonale Steuerregime mit dem Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und der EU kompatibel seien. Gemeint sind die speziellen Steuerregelungen für Holdinggesellschaften, für Verwaltungsgesellschaften (Firmen, die in der Schweiz eine Verwaltungs-, aber keine Geschäftstätigkeit ausüben) und für gemischte Gesellschaften (Firmen, deren Geschäftstätigkeit in der Schweiz von untergeordneter Bedeutung ist, die also vor allem Ausland- Ausland-Geschäfte tätigen). Diese Steuerregime könnten staatlichen Beihilfen gleichkommen, die mit einem guten Funktionieren des FHA nicht vereinbar seien, hieß es weiter. Tatsächlich enthält Art. 23 des Freihandelsabkommens eine Wettbewerbsklausel, wonach der Warenverkehr zwischen der Schweiz und der EU nicht durch Wettbewerbsbehinderungen beeinträchtigt werden soll.

Verhärtete Fronten

In ihrem Antwortschreiben vom 29. November 2005 verwies die Schweiz darauf, dass weder Firmen noch Branchen fiskalisch privilegiert würden, sondern gewisse Geschäftstätigkeiten in- und ausländischer Gesellschaften, die mit dem Warenverkehr zwischen der Schweiz und dem EU-Raum nicht im Entferntesten etwas zu tun hätten. Doch Brüssel läßt nicht locker. Am 15. Dezember, anläßlich der Sitzung des "Gemischten Ausschusses", des gemeinsamen Organs für die Verwaltung des FHA, präsentierte die EU-Kommission ein in undiplomatisch direkter Sprache verfaßtes vierseitiges Aide-Mémoire und präzisierte darin ihre Vorwürfe gegenüber der Schweiz.

Die EU-Kommission weiß um ihre schwache formalrechtliche Position, wenn sie die angeblich wettbewerbsverzerrenden kantonalen Steuerprivilegien mit dem FHA aushebeln will. Aber sie hat gar keine andere juristische Handhabe als den Rückgriff auf dieses Abkommen. EU-intern können die Mitgliedstaaten bei vermuteten wettbewerbsverzerrenden Steuerregimen über den sogenannten "Code of Conduct" von 2003 diszipliniert werden. In diesem Rahmen sind rund 100 Steuerpraktiken von alten und neuen EU-Ländern als potenziell schädlich eingestuft worden, die entweder sofort beseitigt werden mußten oder bis Ende 2010 abzuschaffen sind. Halten EU-Mitgliedstaaten an solchen Steuerprivilegien fest, droht ihnen der EU-Wettbewerbskommissar mit einem Vertragsverletzungsverfahren – eine Keule, die wirkt, wie nicht nur das Zustandekommen des Verhaltenskodexes gezeigt hat, sondern auch verschiedene schon eingeleitete Verfahren bewiesen haben.

Gehörte die Schweiz der EU als Vollmitglied an, müßten die kantonalen Steuerprivilegien revidiert beziehungsweise aufgegeben werden.

Doch die Schweiz ist ein Drittland und untersteht somit weder dem Code of Conduct noch dem EU- Wettbewerbsrecht. Da Brüssel also, juristisch gesehen, keine Möglichkeit hat, das schweizerische Steuersystem zu "korrigieren", wird die EU-Kommission wohl versuchen, diese Frage auf die politische Ebene zu heben, und argumentieren, die Schweiz partizipiere de facto am EU-Binnenmarkt und habe sich deshalb gefälligst an die dort geltenden fiskalischen Spielregeln zu halten.
Ein entsprechender – glasklarer – Hinweis findet sich schon auf Seite 3 des erwähnten Aide-Mémoire. So gesehen, könnte sich der Konflikt in den kommenden Monaten verschärfen, zumal die fiskalischen Realitäten in der Schweiz nicht den einzigen, aber einen wichtigen Trumpf im harten internationalen Standortwettbewerb darstellen.

Gemäß einer Studie der "Swiss-American Chamber of Commerce" sind mittlerweile 6500 ausländische Unternehmen in der Schweiz mit eigenen Niederlassungen präsent; allein in den letzten zwei Jahren schlugen hier mehr als 1000 neue Firmen ihre Zelte auf.

Der Beitrag basiert auf einem Artikel in der NZZ